Anima aeterna – vom Geist des Steins
Jens Martin Neumann

Der Rendsburger Bildhauer Tom Müllers hat 2007 mit seiner Skulpturengruppe „Sieben Flaggen für Nordstrand“ der naturgewaltigen Nordseeküste eine spezifische Markierung verliehen und dem rauen Leben der Menschen am Meer ein machtvolles abstraktes Denkmal gesetzt, das ein bezeichnendes Licht auf seine bildhauerische Position wirft: In die weite Landschaftsformation Nordstrands ist nahe zum Deich eine weithin sichtbare luftige Formstruktur aus schlanken, fünf Meter hohen Lärchenholzstelen gestellt, die sich in kalkuliertem Miteinander zu einem klar umgrenzten, dabei transparenten Bezirk über irregulär halbkreisförmigem Grundriss formieren. Sie tragen in hoher Aufhängung steinerne, nur grob bearbeitete und naturhaft rohe Fahnentücher, die – leicht radial verschwenkt und in den variierenden Oberflächentexturen und Farbwerten individuell bezeichnet – in dynamischer Linienbündelung frei in den gewaltigen Westküstenhimmel auswehen. Das formale Repertoire ist rigoros auf die lapidaren Grundformen viereckiger Holzstab und gezackte Steinscheibe beschränkt, die Granitblöcke selbst leben vom spannungsvollen Kontrast von polierten und bruchrauen Ansichten. Tom Müllers Kunsthain ist integraler Bestandteil der kargen Wattenmeerlandschaft, liefert zu ihr einen interpretatorischen Kommentar, gleichsam ein Modell unserer Naturerfahrung. Die archaische Pfahl- und Steinsetzung ruft zugleich durch zwanglose Bezüge zu urgeschichtlichen Monumenten kollektive Erinnerungen an mythische Orte längst vergangener Religionen ab, ist auf eine formelhafte Prägnanz gebracht, die sich zu einem räumlichen Geschehen im realen Küstenraum entwickelt, das deutlich metaphorischen Verweischarakter besitzt.

Die Steinobjekte von Tom Müllers beeindrucken durch die kraftvoll knappen, notwendigerweise schlichten Formen, ihre große sinnlich haptische Präsenz und die uneitle Zurückhaltung im skulpturalen Entwurf. Bestimmend wirken ihre massive Erdenschwere, die quasi konstruktive Strenge der kompakten, scharf geschnittenen Steingestalt, die expansive Lebendigkeit spröder zerklüfteter Oberflächen und herauspolierter fließender Farbverläufe sowie der erfahrbare Gegensatz von gewachsenem Steinmantel zu Spaltspuren, Schnittlinien und Polituren. Tom Müllers operiert stets mit diesem dinghaft greifbaren Volumen des Steinblocks, erforscht dessen spezifische Beschaffenheit, Körper und Fläche, Struktur und Farbe, vor allem aber dessen innersten Kern. Er verzichtet auf jede Bildhaftigkeit und begnügt sich mit den stereometrischen Elementarformen des Kubischen, mit Quader, Würfel oder Rechteckplatte. Denn am rohen Stein interessieren ihn zuvorderst formale, zutiefst bildhauerische Aspekte: Definition, Tektonik und Gliederung des Steinkörpers, Grenzen und Achsen des umschlossenen Raums, Form und Intervall, aber genauso atmosphärische Werte, etwa das Spiel von Licht und Schatten. Seine Arbeiten beruhen ausschließlich auf Spaltung und Schnitt des in Blöcken gebrochenen und dann weiter gespaltenen Steins. Ausschlaggebend ist einerseits das sensible Gespür für Granit, Gneis und Kalkstein, so wie sie im Bruch aufgefunden und ausgewählt wurden, andererseits das ebenso einfache wie entschiedene Konzept der Bearbeitung, bei dem Tom Müllers denjenigen Moment der maximalen Reduktion sucht, der gerade noch schöpferische Bedeutung besitzt. – Das Werk wird also ganz aus der kalkuliert sparsamen künstlerischen Aktion und der geologischen Eigenschaft des Materials gedacht.

In unbedingt präziser Form- und Materialanalytik lotet Tom Müllers den Charakter seines Werkstoffs als Ziel gerichtete Aktion von Brechen, Spalten, Höhlen, Glätten, Polieren und Zusammenfügen aus. Im Steinbruch mittels Seilsäge oder Schräme gewonnen und von eingetriebenen Keilen zum Rohblock geteilt, spaltet er den Stein in der Mitte, höhlt und poliert die dadurch entstandenen Innenflächen, wodurch sich die geschlitzte Bruchstelle nun zu einem organisch kurvierten Einblick öffnet. Er glättet und schleift ausgewählte Außenseiten, um die erschmolzene körnige Textur und die intensive gesättigte Farbigkeit, also die verborgene Schönheit des Steins, freizulegen, fügt die Werkstücke wieder zum Quader zusammen, setzt sie horizontal aneinander oder stellt sie zu massigen, stellenweise durch aufliegende Deckplatten torförmig verbundenen Doppelstelen auf. Tom Müllers Nachdenken über Skulptur wirkt tief in den Prozess der Formfindung hinein, jede handwerkliche Entscheidung ist hier auch eine bildnerische und inhaltliche, Steinbearbeitung und Kunstform sind untrennbar miteinander verbunden: Die später sichtbaren Bruchflächen sind oftmals durch Rhythmus und Muster der Bohrlöcher organisiert, somit wird eine einfache gliedernde Ornamentik mit regelmäßig angeordneten Kanneluren vollständig aus den Spuren der Spaltung ermittelt. Gleiches gilt für die zentral in das Untersegment eingeschnittenen Tormotive, deren seitliche Wangen von entsprechenden Keilröhren gebildet werden; und auch über Rahmenform und Dimension der geöffneten Einschnitte entscheiden solche pointiert gesetzten Spaltkanäle. Die artifiziellen, in diesem Sinne jedoch vorgefundenen Formen resultieren rein aus elementaren Steinhauerverfahren und dem Urbestand des Steins und machen ihn dergestalt zum Thema. Die künstlerische Arbeitsweise ist stets von diesem tiefen Respekt vor dem autarken erdkrustigen Steinkörper und von größtem 9 Vertrauen in dessen ästhetische Qualitäten geprägt. Tom Müllers erforscht schlicht die ureigene Sprache des Gesteins, dessen materielle, formale, aber auch spirituelle Dimensionen.

Tom Müllers gesamtes bildhauerisches Oeuvre ist somit eine anhaltende kontinuierliche Suche nach den erdgeschichtlichen, zugleich biografischen Spuren des Steins, weshalb hier auch einschlägige Zuordnungen zu Minimalismus oder Konzeptkunst jegliche Bedeutung verlieren. Die künstlerischen Eingriffe in den Steinquader bleiben ganz zwangsläufig so gering wie möglich, sie folgen nicht spontanen willkürlichen Einfällen, sondern sind gleichsam aus der Jahrmillionen alten Seele des Steins herausgefühlt, folgen einem inneren Gesetz, welches bildhauerische Handlungen überhaupt nur dann zulässt, wenn sie ein Ergebnis anvisieren, das die potentiellen, dem Stein innewohnenden Möglichkeiten entfaltet. Damit wird bereits dem schroffen, buckligen und narbigen Steinkubus die Identität als Kunstwerk zugebilligt, und deshalb verweigert Tom Müllers auch das gewohnt Repräsentative der traditionellen Skulptur, so dass das nackte Material in ungebärdigen, primitiven, unverfälschten Bildformen zum Betrachter sprechen kann. Wichtigste Kategorie in diesem Konzept ist die Teilung des Rohblocks in zwei Hälften, also das Öffnen des Steins, um zu seinem Kern vorzudringen. Die Spaltung bezeichnet einen sehr persönlichen Dialog des Bildhauers mit seinem Werkstück, in dem Tom Müllers ganz individuell dem Extrakt des durch Erstarrung pulsierender Magma in der Erdkruste entstandenen Steins nachspürt. Ihre Folgen sind kaum zu überschätzen, denn die Strukturen und Formationen, die er im Inneren sieht, im Volumen verändert und zu weichglatter Wölbung modelliert, bestimmen Arbeitsweise und Gesamtgestalt – diese Einsicht ereignet sich auch auf den Oberflächen. Die im geschützten Steininneren erfolgte, ebenso einsame wie intime Klärung kann folgerichtig nur bedingt öffentlich gemacht werden, weshalb sich die Teilnahme des Betrachters vielfach auf einen verengten schemenhaften Einblick beschränkt. Das Publikum erhält zur Betrachtung indes die im neuerlichen Zusammensetzen stärker distanzierte und rein formale Lösung, mit der es dann in ein eigenes Zwiegespräch treten muss. Zentrale Bedeutung besitzt also der aus seinem Inneren gedachte Eigenwert des Steins – tief im Stein liegt hier die fundamentale Botschaft.

In ihrer existenziellen Gegenwärtigkeit sind den Werken von Tom Müllers die Spuren der Erd geschichte eingeschrieben, das Material ist dergestalt Speicher immenser Zeit, und die archaische Bearbeitung stellt solche Erfahrungen von Erhabenheit, Endgültigkeit und Ewigkeit sinnbildlich sicher. Materieller Befund, Aufbau und Anordnung mögen überdies an Steinkreise, Menhire und Dolmen prähistorischer Megalithkulturen gemahnen, doch verweigern sich die Steinarbeiten durch das konstruktiv Objekthafte sofort wieder diesen möglichen inhaltlichen Bezugsfeldern. Von Tom Müllers zu seiner, im Rohzustand noch verborgenen, wesenhaften Form befreit, verweist der Stein gerad linig auf sich selbst und setzt aus purer Präsenz heraus eine konkrete Realität. Der Stein ist schlicht das, was er ist.

Vom Fließen der Steine – Ein Werkstattbesuch
Sönke Lundt

Auf den ersten Blick deutet an diesem Ort nichts auf Kunst hin. Beinahe pittoresk gelegen inmitten des Nord-Ostsee-Kanals, trotzt die „Rader Insel“ dem unaufhaltsamen Strom der viel befahrenen Wasserverkehrsstraße. Tom Müllers‘ Atelier liegt am Rande des kleinen Eilandes in einer alten Werkhalle. Gleich nebenan können Bootsbesitzer ihre Yachten und Segelboote in riesigen Hallen ins Winterquartier bringen. Über eine Brücke gelangt man von Borgstedt aus auf die Insel. Im benachbarten Rendsburg betreibt der Künstler zusammen mit seiner Frau Sibylle, die ebenfalls Bildhauerin ist, das Kunsthaus Müllers. In ihrer Rader Werkstatt in einem ehemaligen Kalksandsteinwerk und einem überdachten Unterstand im Freien können beide ungestört arbeiten.

Tom Müllers‘ bevorzugter Werkstoff ist der Stein. Hier insbesondere Granit und eine Unterart des Granits, der Gneis – ein sogenannter Metamorphit, entstanden aus magmatischem Ausgangsgestein. In einigen Arbeiten setzt Müllers zusätzlich Holz als spannungsreichen Kontrapunkt ein.

Wenn der gelernte Steinmetz dem Gneis – einem bis zu vier Milliarden Jahre alten Tiefengestein – zu Leibe rückt, muss er dafür nicht nur erhebliche Kraft aufwenden, sondern auch noch eine Menge Lärm und Staub in Kauf nehmen.

Um die Steine zu zerteilen, bohrt er sie an und treibt sie mit dem Hammer und Spaltkeilen auseinander. Die so entstehenden Bohrspuren lässt Müllers ganz bewusst stehen. „Ich arbeite eng am Stein, gehe in ihn hinein, damit er mir etwas erzählen kann“, sagt der Künstler. Obwohl er die Richtung, in die der Stein spaltet, mit Hilfe der Spaltkeile und spezieller Laschen grob bestimmen kann, spielt auch immer der Moment des Zufalls eine Rolle. Anders als beim maschinellen Schneiden, bei dem Müllers klar definierte, glatte Flächen schaf ft, lässt sich der Verlauf einer Spaltung eben nicht genau bestimmen. „Für mich ist gerade dies das Spannende an meiner Arbeit“, sagt der Bildhauer, „das Wechselspiel aus eigener kreativer Schöpfung und Zufall.“

Das Fließende ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Tom Müllers‘ Kunst. Die Arbeit am Stein ist für ihn ein Eintauchen in die Erdgeschichte: „Mich interessiert alles Fließende. Das Material, mit dem ich arbeite, ist vor Millionen von Jahren durch die Hitze und das Erkalten der flüssigen Erdkruste geformt worden. Die Faszination, die von diesem Vorgang ausgeht, versuche ich in meiner Arbeit umzusetzen und in neue, andere Zusammenhänge zu stellen.“

Der besondere Reiz von Müllers‘ Arbeiten geht von den Kontrasten in Form und Oberflächenstruktur aus: Feingeschlif fene, glatte Partien, die an das Fließen des Magmas erinnern, aus dem der Stein einst geboren wurde, stellt er rauen, weitgehend unbearbeiteten Flächen gegenüber.

Während Müllers‘ frühe Arbeiten noch stärker organische Formen aufweisen, sind seine neueren durch klare geometrische Grundformen wie Quader oder dreiseitiges Prisma geprägt. Doch strenge Symmetrie interessiert den Bildhauer nicht. „Es geht um dieses ‚fast’!“, sagt Müllers. „Es ist eben nur fast symmetrisch! Das ist wie beim Menschen: Ein fast symmetrisches Gesicht wird von uns als schön empfunden. Ein Gesicht, das aus zwei identischen Hälften – also streng symmetrisch – zusammengesetzt ist, empfinden wir dagegen als langweilig.“

1953 in Düsseldorf geboren, beginnt Tom Müllers 1978 eine Lehre als Steinmetz und Steinbildhauer. Nach erfolgreichem Abschluss studiert er ab 1984 an der Werkkunstschule Flensburg Bildhauerei. Vier Jahre später wird er Dozent an der Werkkunstschule Lübeck.

Häufig schon war Müllers auf den Landesschauen des Bundesverbandes Bildender Künstler vertreten. Das erste Mal im Jahre 1986 zur 33. Landesschau in Schleswig-Holstein. In dieser Zeit entstand auch eine vielbeachtete Arbeit für den öffentlichen Raum: Er schuf eine Wandgestaltung für das Behindertenheim in Schleswig. 1991 wurde er Preisträger bei einem offenen Wettbewerb der städtischen Kliniken Osnabrück.

Die Arbeiten des Künstlers wurden auf zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland gezeigt – unter anderem auf Landesschauen des Bundesverbandes Bildender Künstler (BBK, Landesverband Schleswig-Holstein), der Großen Kunstausstellung in Düsseldorf, der internationalen Kunstausstellung Nord Art in Büdelsdorf und in der Ausstellung „Jenseits der Norm“ des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, die während der documenta X im Rahmenprogramm der Stadt Kassel stattfand. Im Jahre 2003 führte ihn eine Wanderausstellung des Künstlerbunds in die Städte Tartu und Põlva in Estland. Zwei Jahre später wurden seine Werke in einer gemeinsamen Ausstellung mit Tamer Serbay im schwedischen Borås gezeigt.

Auftragsarbeiten, darunter etliche für Kunst im öffentlichen Raum, prägen ebenso sein künstlerisches Schaffen wie die Teilnahme an mehreren Land-Art-Projekten.

Als im Jahr 2000 der Ochsenweg zwischen Nortorf, Bokel und Rendsburg zum Kunstpfad erhoben wurde, nahm er neben 27 anderen Künstlern mit der Arbeit „Riesenstein“ daran teil. Wer Müllers‘ Werk kennt, weiß, dass die meisten seiner Arbeiten ohne Titel auskommen. „Ich möchte den Betrachter nicht zu sehr lenken, ihn nicht in seinen Deutungsmöglichkeiten einschränken“, sagt Müllers. Doch bei der vier Meter hohen Plastik, die er an einem Feldrand nahe Pollhorn vor Jevenstedt aufstellte, brach Müllers mit dieser Maxime.

Auf zwei monumentalen, nach oben hin sich leicht verjüngenden Eichenstelen thront ein riesiger unterseits geschliffener Granitstein, dessen sanft geschwungene Statur und raue Oberfläche wie von den Urkräften der Natur geformt erscheint. Der so entstandene schmale, langgestreckte Torbogen, soll den Spaziergänger schon aus der Ferne an eine norddeutsche Sage erinnern.

Dieser Sage nach hatte ein grimmiger Riese offenbar Einwände gegen den Bau der Nortorfer Kirche. Als sie größtenteils fertiggestellt war, ergriff er an eben jenem Orte bei Jevenstedt einen riesigen Stein, der das Ausmaß der gesamten Kirche gehabt haben soll, und legte ihn in seine Schleuder. Doch der Strick der Schleuder riss, so dass der Stein sein Ziel verfehlte und stattdessen in den Heinkenhorster Bäumen hängenblieb. Dort sei der Stein lange Zeit so hängengeblieben, ehe ein Großteil von ihm für den Bau der letzten Nortorfer Kirche verwendet wurde. Ausgerechnet der Stein, welcher der Kirche einst auf den Kopf schlagen sollte, ruht nun als Fundament am Fuße des Gotteshauses.

Der Stein des Riesen in den Bäumen – eine ungewöhnlich poetische Arbeit eines Künstlers, dessen Werk vor allem durch ein hohes Maß an Reduktion und Abstraktion geprägt ist.

Ortswechsel. Der Wind peitscht unnachgiebig über den Damm, der vom Festland auf die kleine Halbinsel Nordstrand führt. Bedrohlich, wie eine Wand aus grauem Stahl, zeichnet sich der Himmel über der Weite der nordfriesischen Landschaft ab. Ein paar Kühe trotzen tapfer den Regenfluten.

Tom Müllers hat sich den Kragen seiner Windjacke fest zugeschnürt. Inmitten der Naturgewalten hat er eine beeindruckende Skulpturengruppe installiert. Man sieht sie schon von weitem, vom Festland kommend: Sieben Flaggen, von fünf Meter hohen massiven Lärchenstämmen getragen, die sich dem Betrachter stolz entgegenstrecken. Aus der Ferne betrachtet käme man nie auf die Idee, dass eine einzelne von ihnen bis zu 190 Kilo schwer ist.

Jede steinerne Fahne, die da so scheinbar leicht im Wind flattert, hat Müllers in mühsamer Handarbeit aus verschiedenfarbigen Graniten und Gneisen herausgeschlagen. Feine Farbabstufungen – von Anthrazit über Grau bis hin zu einer rot-schwarzen Marmorierung – verleihen seiner Arbeit eine ungeheure ästhetische Kraft.

Neben der präzise durchkomponierten Farbgestaltung fasziniert auch in diesem Werk des Künstlers die unterschiedliche Bearbeitung der Oberflächen, das bewusste Spiel mit dem Material: Eine Seite des Steins ist jeweils bearbeitet und poliert, die andere naturbelassen.

Jede Fahne läuft an ihrem Ende flach und spitz aus, in ihrem Inneren ist sie durch Gewindestangen aus Edelstahl mit dem witterungsbeständigen Holz verschraubt und zusätzlich noch verklebt.

Wie bei seinem zuvor beschriebenen Land-Art-Projekt, dem „Riesenstein“, arbeitet Müllers erneut mit zwei gegensätzlichen Materialien: Auf der einen Seite die allen Jahrmillionen trotzenden, harten Urgesteine; auf der anderen Seite das weiche Holz – ein Material, das der rauen Witterung Nordstrands auf Dauer unbehandelt kaum widerstehen könnte. Müllers‘ Windskulptur als Sinnbild von Ewigkeit und Vergänglichkeit.

Doch warum ausgerechnet sieben Flaggen? Der Initiator des Projektes, Lauri Jacobsen, gibt darauf eine Antwort: „Bis heute trotzt der Mensch den Gewalten. 1654 begann man auf Nordstrand mit dem Bau von eingedeichten Kögen, um Land zurückzugewinnen und um sich zu schützen. Heute fügt sich die Insel aus sieben Kögen zusammen, angefangen mit dem „Friedrichs-Koog“ (1654-56), dem heutigen „Alten Koog“, bis zum jüngsten Koog, dem „Pohnshalligkoog“, der erst 1925 vollendet wurde. Diese sieben Köge werden symbolisiert durch die sieben Flaggen des Künstlers Tom Müllers.“

Gleich zwei weitere Besonderheiten stellen die „Flaggen“ in Müllers‘ OEuvre dar: Sie verfügen über einen Titel und stehen – anders als die meisten seiner abstrakten Werke – für ein vorab klar definiertes Sujet, was wohl vor allem der Auftragsarbeit geschuldet sein dürfte.

Im Dezember 2007 konnten die monumentalen „Flaggen für Nordstrand“ endlich aufgestellt werden. Als neues Wahrzeichen für die gesamte Insel heißen sie Einheimische wie Besucher gleichermaßen willkommen, und man ist geneigt zu fragen, wie Nordstrand eigentlich bisher ohne dieses symbolträchtige Kunstwerk auskam. Doch bis es endlich seinen Weg von Müllers Atelier an die Westküste fand, war es ein langer, im wahrsten Sinne des Wortes „steiniger“ Weg.

Bereits 2006 entwickelte Müllers, zusammen mit seinem Nordstrander Freund und Förderer Lauri Jacobsen, die Idee zu der Skulpturengruppe. Mit ersten Modellen begab sich der Initiator erfolgreich auf Sponsorensuche und fand in der Gemeinde Nordstrand sofort Unterstützung. Doch die statischen Berechnungen gestalteten sich schwieriger als gedacht. Ein vom Künstler beauftragter Statiker hatte keinerlei Einwände, doch ein von der Gemeinde beauftragter Gutachter verweigerte die Genehmigung, ehe ein weiterer unabhängiger Prüfstatiker endlich doch noch grünes Licht gab.

Statt wie geplant im September 2007 konnten die Flaggen so erst im Dezember aufgestellt werden. Auch der eigentlich vorgesehene Standort auf dem Nordstrander Damm musste auf den nahegelegenen Parkplatz verlagert werden – ein Zugeständnis an die Sicherheit, das der Ästhetik und dem Gehalt des Kunstwerks jedoch keinen Abbruch tut.

Anders als einem Bildhauer des Manierismus wie Giovanni Bologna (1529-1608) mit seinen sich spiralförmig um die eigene Achse windenden Bronzeskulpturen, geht es Müllers nicht um die reine Form als ästhetischen Selbstzweck. Während die Künstler der Klassischen Moderne wie Henry Moore (1898-1986) oder Hans Arp (1886-1966) mit ihren sich lang ausdehnenden, immer wieder durchbrochenen Formen ganz offensichtlich die Ausdehnung in den Raum erprobten, grenzen sich Müllers‘ Arbeiten in ihrer fast monolithischen Strenge zunächst scheinbar davon ab. Wenn Müllers einen Stein spaltet, um die beiden Hälften anschließend – nur durch die Bruchlinie voneinander getrennt – wieder aneinanderzufügen, entstehen ebenfalls Durchblicke, wechselseitige Bezüge zum Raum. Doch die raumgreifende Wirkung ist weitaus subtiler als bei den Bildhauern vorausgegangener Epochen.

Bei seinen „Flaggen für Nordstrand“, wie bei seinen anderen Land-Art-Projekten, bezieht er die Umgebung dagegen sehr direkt in den Gestaltungsprozess ein: Der je nach Tages- und Jahreszeit unterschiedliche Stand der Sonne und das wechselhafte Spiel von Regen, Wind und Wolken formen das Kunstwerk in jeder Minute neu und lassen es so mit der spröden nordfriesischen Kulturlandschaft verschmelzen.

Doch auch Müllers‘ kleinere Arbeiten spiegeln – wenngleich weitaus subtiler – diese Bezüge zur Umgebung: Das Licht wird aufgrund der Formgebung und Oberflächenbearbeitung immer wieder anders reflektiert. Kristalline Einschlüsse – beim Gneis beispielsweise mineralischer Granat und Cordierit – werden so immer wieder anders zum Glitzern gebracht.

Die Begeisterung für den Stein hat Tom Müllers bereits als Schüler gepackt, als er auf einem Friedhof arbeitete. Hier hatte er Gelegenheit, einem alten Steinmetz bei seiner Arbeit an einem Grabstein über die Schulter zu schauen: „Ich war fasziniert von der intensiven Auseinandersetzung mit dem Stein, sah wie der Steinmetz mit Hammer und Meißel eine Nachschrift hineinarbeitete. Es war eben sein Stein, den er von Anfang bis Ende selbst bearbeitete.“

Obwohl Müllers den Steinen in der Vorarbeit recht unsanft mit Säge, Hammer und Spaltkeilen zu Leibe rückt, legt er Wert darauf, diese „Eingriffe“ möglichst „sparsam“ zu gestalten. Anders als die Bildhauer der Antike, des Barock, der Klassik oder auch der Klassischen Moderne geht es ihm nicht um eine Idee, die er in Stein umsetzt, sondern darum, den Charakter jedes einzelnen Steins herauszuarbeiten.

Der kreativ-künstlerische Prozess setzt bei Tom Müllers bereits bei der Auswahl des Materials ein. Aus diesem Grund fährt er selbst zu den Steinbrüchen und Steinmetzbetrieben, um sich direkt vor Ort sein Arbeitsmaterial aussuchen zu können. „Ich muss mir den Stein von allen Seiten ansehen können“, sagt Müllers. Sein Umgang mit dem Werkstof f, den die Natur in Millionen von Jahren geformt hat, ist von einem hohen Maß an Respekt geprägt: „Mir geht es darum, mit dem Stein zusammen eine Form zu finden. Ich versuche einerseits seine natürliche Erscheinung zu erhalten, greife aber auch gestalterisch ein, indem ich etwa klare Begrenzungen durch ebene Flächen gestalte. Durch dieses Wechselspiel verstärkt sich beides.“

Indem der Künstler den Stein spaltet, gibt er einen Blick auf dessen Inneres frei. Durch das Wechselspiel von geschnittener Fläche und Spaltfläche sucht er den Charakter des Steines zu bewahren. „Mich interessiert das Biografische des Steins. Er ist für mich nicht nur bloßes Material, sondern Träger von Bedeutung und Historie. Über das Materielle hinaus besitzt er etwas Geistiges, Lebendiges.“

„Denn alle Lust will Ewigkeit“, hat die bekannte Portrait-Fotografin Isolde Ohlbaum einen ihrer Fotobände überschrieben. Darin zu sehen: Aufnahmen der mal erotisch verführerischen, mal keuschen, fast monochromen Grabskultpturen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die steinernen Körper erhalten durch Licht und Schatten, durch Nässe und Moos, für einen Augenblick Lebendigkeit – der Augenblick, in dem der Wunsch nach Unsterblichkeit entsteht. Tom Müllers‘ Arbeiten, wenngleich in Form und Inhalt bis aufs Surrogat reduziert und nicht auf das Nachspüren von Körperlichkeit ausgerichtet, besitzen eine Gemeinsamkeit mit Ohlbaums Fotografien der Grabskulpturen: Auch sie atmen den flüchtigen Hauch von Ewigkeit und Vergänglichkeit – festgehalten in einer künstlerischen Momentaufnahme.

Neben seinem hohen handwerklichen Können und einem ausgeprägten ästhetischen Gespür für Formen und Oberflächengestaltung, liegt eine große Stärke des Landeschaukunstpreisträgers 2009 in seiner tiefen Verneigung vor dem Stein: Ein tonnenschweres, geerdetes Material, das uns auf ganz leichte, spielerische Art zu den Anfängen des Lebens auf unserem Planeten zurückführt – vorausgesetzt, man führt es so virtuos und feinfühlig in einen künstlerischen Kontext, wie Tom Müllers dies tut.

Wie der Künstler selbst präsentiert sich auch seine Kunst: Unprätentiös und ohne lautes Getöse – aber vielleicht gerade deswegen von so hoher Ausdruckskraft und Glaubwürdigkeit.